Einander wahrnehmen
Mit hängenden Schultern kommt sie zur Tür heraus. Schwer trägt sie an den beiden Müllsäcken, in denen sie den Abfall aus den Büroräumen gesammelt hat. Müde schlurft sie zum Container, um sie zu entsorgen. Auf dem Weg zu meinem Arbeitsplatz kann ich die Frau gut beobachten. Als ich an ihr vorbeigehe, grüße ich sie freundlich und sage: „Guten Morgen!“ Da geschieht etwas Sonderbares. Die gerade noch gebeugt vorwärtsschlurfende Frau richtet sich auf und ihre Augen leuchten, als sie zurückgrüßt.
Einige Tage später begegnen wir uns erneut. Wieder grüße ich freundlich und füge hinzu: „Ich wünsche Ihnen einen schönen Tag!“ Dankbar lächelt sie mich an und antwortet in gebrochenem Deutsch: „Gute Morgen, eine schöne Tag.“ Dieses kleine Ritual wiederholt sich von nun an immer, wenn wir uns begegnen. Inzwischen habe ich auch ihren Namen erfahren und sie freut sich, wenn ich sie damit anspreche. Nun begegnet mir nicht mehr eine Frau mit hängenden Schultern. Statt auf meinen Gruß zu warten, grüßt sie mich schon von weitem fröhlich. Manchmal meine ich sogar, sie singen zu hören.
Ob ihre Veränderung nur an meinem Gruß liegt, weiß ich nicht. Aber es erinnert mich daran, dass Kleinigkeiten, die selbstverständlich erscheinen, viel ausrichten können. „Guten Morgen“ - zwei Worte, vier Silben und ein Name. Es kostet keine Mühe, aber es zeigt dem andern, dass ich ihn wahrnehme und er mir wichtig ist. Freundlich zu sein im Umgang miteinander bewirkt oft viel! Für diese Frau ist es wie ein Lichtstrahl in ihre niederdrückenden Umstände, dass jemand sie beachtet, ihren Namen kennt und sich freut, sie zu sehen.
Wie viel wunderbarer ist es, dass der ewige Gott Sie und mich beim Namen kennt! Es geht kein Mensch über die Erde, den Gott nicht beachtet und für den Er sich nicht freundlich interessiert.